Die Darstellung des Wegs Jesu nach Golgotha und sein Tod am Kreuz in den Passionserzählungen sind eine Inszenierung. Es sind „faktuale Erzählungen“: Sie beruhen auf historischen Fakten, gestalten sie aber auch theologisch und literarisch. Besonders bemerkenswert dabei ist die Verbindung historischer Erinnerungen an den Tod Jesu mit Zitaten und Motiven aus den biblischen Psalmen. Im Zentrum stehen Klagelieder individueller Beterinnen und Beter: Vor allem Ps 22, aber auch andere Psalmen werden zitiert oder angedeutet. Die Psalmen geben der Hinrichtung und dem Tod Jesu ihre Bedeutung: Es ist das Leiden eines Gerechten. Und: Darin erfüllt sich für die ersten Christen die Schrift, die Bibel des jüdischen Volkes. Johannes betont das mehrfach ausdrücklich: „So sollte sich das Schriftwort erfüllen …“. Durch den Bezug auf die Klagelieder der Psalmen ist die Passion Jesu aber auch, indem sie mit dem Leiden ihrer Beterinnen und Beter verbunden wird, als echtes menschliches Leiden erkennbar. Jesus selbst ist nach den Evangelien mit Psalmworten auf den Lippen gestorben. So werden die Beter der Psalmen, auch wir, ein Teil dieser großen Erzählung!
I.
An der Hinrichtungsstelle Golgota angekommen, reichen die Soldaten Jesus mit Myrrhe gemischten Wein, vermutlich zur Betäubung der Schmerzen, einen Trank, den Jesus bewusst ablehnt. Der Evangelist Matthäus gibt der Szene eine etwas andere Bedeutung, indem er auf einen Vers aus Ps 69 (V. 22) anspielt und die Myrrhe durch Galle (cholē) ersetzt. Er zeigt damit, dass der leidende Jesus von den Soldaten verhöhnt wird – im Psalm heißt es:
21 Die Verhöhnung bricht mir das Herz,
ich bin krank vor Schmach und Schande.
Ich hoffte auf Mitleid, doch vergebens,
auf Tröster, doch fand ich keinen.
22 Sie gaben mir Gift als Speise
(in der griechischen Übersetzung der Psalmen heißt es „Galle“),
für den Durst gaben sie mir Essig zu trinken.
II.
Nachdem Jesus ans Kreuz geschlagen ist, folgt die Szene mit der Verteilung seiner Kleider. Hier wird der Psalm in die Passionserzählung eingespielt, der sie so tief prägt: Ps 22. Der Beter beklagt, dass er von machtvollen Gegnern umringt ist, die ihn angaffen und bis aufs Letzte ausplündern (Ps 22,19):
Sie verteilen unter sich meine Kleider
und werfen das Los um mein Gewand.
Johannes entfaltet diesen Psalmvers sogar zu einer kleinen Szene: Die Soldaten – es sind vier – teilen unter sich die Kleider Jesu in vier Teile auf, aber um den Leibrock Jesu werfen sie das Los, da er ohne Naht ganz durchgewebt ist. Wichtig ist Johannes das wirkliche menschliche Leiden Jesu: Er hängt nackt am Kreuz, in äußerster menschlicher Erniedrigung.
III.
Dann kommen am Gekreuzigten Passanten vorbei, die ihn schmähen und – wie es in Ps 22 heißt – verständnislos ihre Köpfe über ihn schütteln. Im Psalm leitet das zum höhnischen Spott derer über, vor denen sich der Beter nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Wurm fühlt. Matthäus verstärkt den Bezug zum Psalm noch, wenn er daraus als Höhepunkt der Verhöhnung einen Vers wörtlich zitiert (V. 9):
Wälze die Last auf den HERRN!
Er soll ihn befreien,
er reiße ihn heraus, wenn er an ihm Gefallen hat!
IV.
Als letztes Wort am Kreuz spricht Jesus bei Markus und Matthäus – zitiert in seiner aramäischen Muttersprache! – das unerhörte Eingangswort von Ps 22:
2 Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?
Im Griechischen ist die Frage eigentlich eher zu verstehen: „Wozu hast du mich verlassen?“, richtet sich nicht so sehr auf das, was in der Vergangenheit geschehen ist, sondern auf das, was es für die Zukunft bedeutet. Wie tief trotzdem die Klage der Gottverlassenheit geht, zeigt der ganze Anfang des Psalms:
2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen,
bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens?
3 Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort;
und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe.
In der Passionserzählung wird nur der Klageteil des Psalms aufgenommen und zwar in der Abfolge der Zitate von hinten nach vorne, mit dem Höhepunkt in diesem Schrei der Gottesferne!
V.
Die aramäische Form des zitierten Psalmworts führt bei den Umstehenden schließlich zu der böswilligen Verdrehung, dass Jesus nach Elija als Helfer rufe, was nur zu weiterem Spott Anlass gibt. Hier spielt Markus auf Ps 69 an (V. 22): Einer taucht einen Schwamm in Essig, steckt ihn auf ein Rohr und bietet ihn dem Gekreuzigten zum Trinken an. Im Psalm kommt darin blanker Hohn zum Ausdruck, Verhöhnung, die das Herz bricht, wie es dort heißt.
VI.
Jesus stirbt im Markus- und im Matthäus-Evangelium mit einem lauten wortlosen Schrei. Lukas setzt hier, wieder mit einem Psalmzitat, einen anderen Akzent:
In deine Hand lege ich voll Vertrauen meinen Geist;
(du hast mich erlöst, HERR, du Gott der Treue.)
Ps 31, aus dem das Zitat stammt (V. 6), kennt zwar auch die Klage (V. 10-14), vor allem ist der Psalm aber bestimmt von Vertrauen und Gewissheit über das rettende Handeln Gottes für den Beter, die Beterin.
VII.
Nach dem Bekenntnis des Hauptmanns unter dem Kreuz erzählt schließlich Markus – und mit ihm Matthäus –, dass die Frauen, die Jesus von Galiläa gefolgt waren, „von weitem“ zuschauten (Mt 27,55). Lk 23,49 spielt an dieser Stelle vielleicht auf Psalmstellen an („seine Bekannten“, „von fern“), die diese Ferne nicht nur als lokale Feststellung verstehen lassen, sondern das – selbst bei den Frauen, die ihn, anders als seine Jünger, nicht verlassen haben – auch als Teil von Jesu Leiden und Isolation zu erkennen geben:
Ps 38,12
Freunde und Gefährten bleiben mir fern in meinem Unglück
und meine Nachbarn blieben mir fern.
Ps 88,9
Entfernt hast du von mir meine Vertrauten,
zum Abscheu machtest du mich ihnen.
Die Psalmen, die für die Schilderung des Leidens und Sterbens Jesu in den Evangelien eine besondere Rolle spielen, sind sog. „Klagelieder des Einzelnen“, die größte Gruppe von Gebeten einer Art im Psalter. In ihnen verdichten sich die Leidens-, aber auch die Rettungserfahrungen vieler Beterinnen und Beter Israels. Sie klagen über ganz konkrete Leiden wie Krankheit oder Armut, aber ebenso über soziale Isolation, den Spott, die Schadenfreude, gerade auch der Nächsten, die vielleicht mehr schmerzen als die Folgen der leiblichen Leiden und Sorgen. Das erleiden viele Menschen heute nicht anders als in der Welt des alten Israel. Deshalb haben die Psalmen nach wie vor mit uns zu tun, auch wenn uns ihre Sprache fremd geworden ist. Jesus erleidet ein Geschick, wie es viele Psalmenbeter beklagt haben. So sind auch wir hineingenommen in das „Spiel“ der Passion. Es gilt aber auch umgekehrt: Das Klagegebet der Psalmen ist aufgenommen in Leiden, Sterben und Auferstehung Jesu!
Ps 22 verdeutlicht das tiefe und echte menschliche Leiden Jesu und die Erfahrung der Gottesferne, lenkt für die mit den Psalmen vertrauten Beter aber zugleich den Blick auf die Rettung des Gekreuzigten durch Gott voraus! Die Klagelieder sind in der Regel mit einem Danklied oder Dankgelübde verbunden: In der tiefen Klage haben sie schon die Rettung aus der Not durch Gott im Blick. Das war für die Wahl dieser biblischen Texte zur Ausgestaltung der Passionserzählung sicher wichtig.