Tafelbild: Einzug Jesu in Jerusalem, um 1112, in der Kirche St. Martin in Zillis in Graubünden. Quelle: Joachim Schäfer – Ökumenisches Heiligenlexikon.
In der Einheitsübersetzung lautet der Vers:
Jes 11,1 (Lesung 2. Adventssonntag A)
Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor,
ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.
Dieser sehr bildhafte Eingangsvers weist über sich hinaus: Woher kommt das Bild des Wurzelstocks, aus dem ein neuer Trieb hervorgeht, der Frucht bringt? Weshalb wird er mit dem Namen Isai verbunden?
Das „doch“ zu Beginn des Satzes verweist auf den vorangehenden Text im zehnten Kapitel des Jesaja-Buchs, durch die mittelalterliche Kapiteleinteilung und unsere Lesegewohnheit abgeschnitten. Um Abgeschnittenes geht es auch in den Versen unmittelbar vor dem messianischen Hoffnungstext Jes 11,1-9:
Jes 10
33 Siehe, Gott, der HERR der Heerscharen,
schlägt mit schrecklicher Gewalt die Zweige ab.
Die Hochgewachsenen werden gefällt
und die Emporragenden sinken nieder.
34 Er rodet das Dickicht des Waldes mit dem Eisen
und der Libanon fällt durch einen Mächtigen.
Ein erschreckend gewalttätiges Bild von Gott als „Herr der Heerscharen“, der mit Gewalt einen mächtigen Wald rodet. Aber auch von hier muss man noch weiter zurück blättern: Hinter den „Hochgewachsenen“ und „Emporragenden“ verbirgt sich der Assyrerkönig und seine für die damalige Zeit unüberwindliche militärische Supermacht.
Jes 10
5 Wehe Assur, dem Stock meines Zorns!
Der Knüppel in ihrer Hand, das ist meine Wut.
6 Gegen eine gottlose Nation sende ich ihn
und gegen das Volk meines Grimms entbiete ich ihn,
um Beute zu erbeuten und Raub zu rauben,
um es zu zertreten wie Lehm in den Gassen.
7 Doch Assur stellt es sich nicht so vor,
sein Herz plant es anders, es hat nur Vernichtung im Sinn, die Ausrottung nicht weniger Nationen.
Der Assyrerkönig Sanherib bei der Eroberung der judäischen Stadt Lachish 701 v.Chr. Relief im Königspalast von Nineveh; heute British Museum, London; Quelle: Wikipedia / Osama Shukir Muhammed Amin FRCP(Glasg).
Erstaunlich: Das gewaltsame Wüten Assurs ist Gottes Strafe für sein eigenes Volk: „mein Zorn, meine Wut! Das ist tief verwurzelt in der Vorstellungswelt aus der diese Texte hervorgehen. Die Strafe kommt nicht etwa, weil Israel religiöse oder kultische Gebote vernachlässigt hätte, sondern weil es – wie es kurz zuvor heißt (V. 1f.) – „unheilvolle Gesetze erlassen und unerträgliche Vorschriften“ gemacht hat, „um die Schwachen vom Gericht fernzuhalten, den Armen das Recht zu rauben, damit die Witwen ihre Beute werden und sie die Waisen ausplündern!“ Aber: Der König von Assur als Werkzeug Gottes handelt auf eigene Rechnung. Ihm geht es nicht um ein Läuterungsgericht, an dessen Ende ein Neuanfang für Israel steht, sondern er hat nur Vernichtung und Ausrottung im Sinn. Auf die besinnungslose Gewalt Assurs antwortet Gott mit der Rodung dieses mächtigen Waldes (s.o. V. 33f.). Doch – und damit kommt in der Übersetzung ein markanter Gegensatz zum Ausdruck – Gott wird aus dem Wurzelstock Isais einen ganz anderen König als den von Assur hervorbringen. Er wird wirklich die Frucht bringen, die Gott will, und sein Handeln einer völlig anderen Logik folgen als die Machtpolitik der Assyrer: Er ist kein gewalttätiger „Stock“ wie Assur, sondern schlägt den Gewalttätigen mit dem „Stock seines Mundes“ und tötet den Frevler mit dem „Hauch seiner Lippen“ (Jes 11,4). Auch das Bringen von Gerechtigkeit und Frieden ist nicht frei von Gewalt, aber sie wird völlig transformiert.
Die Hoffnung auf diesen ganz anderen Königs, der später den Titel „Messias“ erhält, war in der biblischen Überlieferung immer mit dem Haus Davids verbunden. Warum geht er hier dann aus dem Wurzelstock Isais hervor? Selbst wenn man so bibelfest ist und gleich weiß, dass das der Vater Davids ist: Isai spielt keine große Rolle in der Überlieferung der Bibel. Für die Könige Judas ist die Abstammung aus dem Haus Davids entscheidend, nicht die vom Bethlehemiter Isai. Für den Hoffnungstext in Jes 11 ist aber offenbar wichtig: Gott wird mit diesem zukünftigen Befreier aus aller Not einen ganz neuen Anfang machen, unableitbar aus menschlichen Machtverhältnissen und der vorangegangenen Geschichte. So wie er mit David einen Neuanfang gemacht hat. Es ist nicht einer aus der langen Linie der davidischen Könige, mit denen man allzu viele schlechte Erfahrungen gemacht hat. Es ist ein neuer David, auf den sich die Hoffnung richtet!
Letztlich ist das auch der Grund, weshalb dieser König nicht in Jerusalem, der Königsstadt des Hauses Davids, geboren wird, sondern in Bethlehem, so wie einst der erste David:
Mi 5,1
Aber du, Betlehem-Efrata,
bist zwar klein unter den Sippen Judas,
aus dir wird mir einer hervorgehen,
der über Israel herrschen soll.