Vergessene Überlieferungen: Ja’akov ha-Zaddik, ein Heiliger mit Knien wie ein Kamel

Im Kidrontal gibt es noch heute ein beeindruckendes Säulen-Grab, mit dem einmal die Erinnerung an eine besondere Persönlichkeit des frühen Christentums verbunden war. Es ist die monumentale, aus dem Fels geschlagene Grabanlage einer jüdischen Priesterfamilie, der Bene-Hesir. Über Jahrhunderte verehrten die Christen Jerusalems hier aber das Grab eines anderen.

Der frühchristliche Autor Hegesipp schreibt im 2. Jh. n. Chr. über ihn:

Dieser war vom Mutterleib an heilig. Wein und Rauschgetränke trank er nicht, und Beseeltes aß er nicht. Ein Schermesser kam nicht auf seinen Kopf. Mit Öl salbte er sich nicht, und eine Badeanstalt benutzte er nicht. Diesem allein war es erlaubt, in das Heiligtum hineinzugehen; denn er trug auch kein Wollgewand, sondern Leinenkleider. Und allein pflegte er in den Tempel hineinzugehen, und man fand ihn auf den Knien liegend und Vergebung erbittend für das Volk, sodass seine Knie hart wurden wie die eines Kamels, da er sich ständig beugte, auf den Knien Gott anbetend, und für das Volk Vergebung erbat. (Eusebius, Kirchengeschichte II, 23, 5f.; Übersetzung: Hegesipp, übersetzt und eingeleitet von Frank Schleritt, Kleine Bibliothek der antiken jüdischen und christlichen Literatur, S. 22).

Hegesipp schildert diesen Mann als einen jüdischen Nasiräer, für eine bestimmte Zeit oder dauerhaft ganz Gott geweiht, weshalb er als äußeres Zeichen sein Haupthaar nicht scherte und auf Wein oder Rauschtrank verzichtete (Num 6,1-21). Er zeichnet ihn aber auch als Tempelpriester, gemäß den Vorschriften der Tora für Priester bekleidet mit einem Leinengewand (vgl. Ex 28,39), sogar als Hohepriester, der allein das Allerheiligste betreten durfte (Lev 16). Die Rede ist vom Herrenbruder Jakobus, wie ihn schon Paulus im Galaterbrief nennt (Gal 1,19) und viele andere nach ihm. Die Darstellung als Nasiräer ist keineswegs unglaubwürdig. Dagegen kommt in seiner Auszeichnung als Hohepriester vermutlich ein christlicher Konkurrenzanspruch gegenüber dem Judentum zum Ausdruck. Die Schilderung zeigt aber, wie auch andere Überlieferungen des 1. und 2. Jh. n. Chr., wie eng die frühe christliche Überlieferung Jakobus mit dem Tempel und der jüdischen Tradition verband. Das Bild des Beters, der unentwegt auf seinen Knien um Vergebung für das Volk bittet, bis sie so hart geworden waren wie die eines Kamels, erinnert an Mose als den Fürbitter Israels beim Zug durch die Wüste (Ex 32 u.ö. ). Dieser Jakobus, dessen Muttersprache sicher Aramäisch war, ist zutiefst verwurzelt in den Traditionen seines jüdischen Volkes. So denkt man bei dem Titel „der Gerechte“, den ihm die christliche Überlieferung spätestens seit dem 2. Jh. beilegt (z.B. im Hebräer-Evangelium Fragm. 5; Thomas-Evangelium 12), unwillkürlich an die Bezeichnung „ha-Zaddik“, die im Judentum einen vorbildlichen Menschen auszeichnet, der seinen Weg mit Gott geht.

Markus und Matthäus zählen Jakobus als ersten unter den Brüdern Jesu auf (adelphos; Mk 6,3; Mt 13,55), vermutlich Söhne von Josef mit Maria. Der frühchristliche Theologe Tertullian (ca. 160-220 n. Chr.) hatte mit einer solchen Verwandtschaft noch kein Problem. Allerdings musste sich Jakobus, was seine Verwandtschaft mit Jesus anbelangt, eine zunehmende Zurücksetzung gefallen lassen. Je mehr man die Jungfrauenschaft Mariens nicht nur auf die Geburt Jesu bezog, sondern als bleibendes Merkmal der Gottesmutter betrachtete (z.B. Epiphanius von Salamis, Panarion, LXXXVIII, 7,1-5.10; 8,1-6; 10,9-13; 11,5; 14,3f.) fand man Erklärungen der biblischen Aussage über die Geschwister Jesu, die eine Geburt des Jakobus durch Maria ausschlossen: Jakobus sei ein Stiefbruder Jesu aus einer früheren Ehe Josefs (Clemens von Alexandrien, Hippolyt, Origenes, Epiphanius von Salamis), ein Milchbruder Jesu (Zweite Apokalypse des Jakobus) oder dessen Vetter (was adelphos auch bedeuten kann; so etwa Hieronymus). Zur Unterscheidung vom Zebedäiden Jakobus (Jacobus maior) aus dem Kreis der Zwölf hat sich im kirchlichen Sprachgebrauch für den Herrenbruder im Anschluss an Mk 15,40, wo er eigentlich gar nicht gemeint ist, schließlich die Bezeichnung „Jakobus der Jüngere“ oder gar „Geringere“ (Jacobus minor) durchgesetzt, was das Tridentinum für die katholische Kirche verbindlich gemacht hat. Darin zeigt sich wohl ein zunehmender Bedeutungsverlust der ältesten judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem und ihres Hauptes, des Herrenbruders Jakobus.

In der neutestamentlichen Überlieferung ist seine zentrale Stellung unter den ersten Christen dagegen noch sehr deutlich: 1 Kor 15,3-8 nennt ihn unter den Auferstehungszeugen als einzigen neben Kephas/Petrus namentlich. Paulus erkennt ihn in der Auseinandersetzung um die beschneidungsfreie Heidenmission neben Petrus und Johannes als eine der drei „Säulen“ (styloi) der frühesten Gemeinde an (Gal 2,9) – nicht nur in Jerusalem. Anscheinend nahm Jakobus in dieser Frage eine vermittelnde Rolle ein, wenn das sog. Aposteldekret als eine auf der Tora basierende (Lev 17f.) judenchristliche Minimalforderung an Heidenchristen, „Götzenopferfleisch, Blut, Ersticktes und Unzucht zu meiden“ (Apg 15,1-29), auf ihn zurückgeht. Offenbar war Jakobus – vielleicht von Anfang an, zumindest seit sich Petrus auf Missionsreisen begeben hatte – das Haupt der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem, in der Tora-Observanz, der Tempel und Reinheitsregeln nach wie vor eine zentrale Rolle spielten. Die Apostelgeschichte lässt ihn mehrfach als Repräsentanten dieser Urgemeinde in Jerusalem auftreten (Apg 12,17; 15,13; 21,18).

Auch in der weiteren frühchristlichen Überlieferungen des 2. Jh. zeigt sich die Bedeutung des Herrenbruders: Im Hebräer-Evangelium (Mitte 2. Jh. oder früher) erscheint er sogar als erster Auferstehungszeuge und als Teilnehmer am letzten Mahl Jesu:

Als aber der Herr das Leintuch dem Knecht des Priesters gegeben hatte, ging er zu Jakobus und erschien ihm. Jakobus hatte nämlich geschworen, er werde kein Brot mehr essen von der Stunde an, in der er den Kelch des Herrn getrunken hatte, bis er ihn von den Entschlafenen auferstehen sehe. Und kurz darauf sagte der Herr: Bringt einen Tisch und Brot.“ Und sogleich wird hinzugefügt: „Er nahm das Brot und dankte und brach es und gab es Jakobus dem Gerechten und sprach zu ihm: ‚Mein Bruder, iß dein Brot, denn der Menschensohn ist von den Schlafenden auferstanden.‘ (Hebräer-Evangelium, Fragm. 5; Übersetzung: Jörg Frey, in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. I, 604f.)

Auch das Thomas-Evangelium, vermutlich aus dem 2. Jh., überliefert in einer koptischen Rezension unter den gnostischen Manuskripte von Nag Hammadi, hebt die Vorrangstellung des Jakobus hervor:

Die Jünger sprachen zu Jesus: „Wir wissen, daß du von uns gehen wirst. Wer ist es, der (dann) über uns herrschen wird?“ Jesus sprach zu ihnen: „Woher (auch immer) ihr gekommen seid – zu Jakobus dem Gerechten sollt ihr gehen, um dessentwillen der Himmel und die Erde entstanden sind.“ (Thomas-Evangelium, Spruch 12; Übersetzung: Chr. Markschies in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. I, 509)

Der altkirchlichen Überlieferung gilt Jakobus – wenn auch etwas anachronistisch – als erster Bischof von Jerusalem. Clemens von Alexandrien berichtet, die nach Jesu Himmelfahrt besonders wichtigen, oben schon genannten drei Säulen, Petrus, Johannes und Jakobus, hätten aus ihrer Mitte Jakobus als Bischof von Jerusalem erwählt (Hypotyposeis VI; bei Eusebius, Kirchengeschichte, II, 1,3; vgl. II, 23,1). Eusebius, der diese Aussage zitiert, bezeichnet ihn als ersten Bischof (episkopos) von Jerusalem (Kirchengeschichte, II, 1,2; IV, 5,1-4) und erzählt, dass der bischöfliche Thron des Jakobus bis zu seiner eigenen Zeit noch erhalten war und verehrt wurde (Kirchengeschichte, VII, 19,1). Um 400 n. Chr. sah die frühchristliche Pilgerin Egeria einen solchen Thron des Herrenbruders in der Bischofskirche Jerusalems, der byzantinischen Hagia-Sion-Kirche (überliefert von Petrus Diaconus, De locis sanctis, E).

Besonders wichtig für die Jerusalemer Gemeinde und die christliche Erinnerungslandschaft der Stadt war das Martyrium des Jakobus. Sein gewaltsamer Tod ist erstaunlich gut und früh in verschiedenen Quellen bezeugt: einer jüdischen des 1. Jh. und drei christlichen bzw. gnostischen des 2. Jh. Sie überschneiden sich zum Teil, zeigen aber auch deutliche Unterschiede, so dass offenbar verschiedene, voneinander teilweise unabhängige Traditionen vorliegen. Als erster schildert das Martyrium der jüdische Historiker Flavius Josephus:

Der jüngere Ananus jedoch, dessen Ernennung zum Hohepriester ich soeben erwähnt habe, war von heftiger und verwegener Gemütsart und gehörte zur Sekte der Sadduzäer, die, wie schon früher bemerkt, im Gerichte härter und liebloser sind als alle anderen Juden. Zur Befriedigung dieser seiner Hartherzigkeit glaubte Ananus auch jetzt, da Festus gestorben, Albinus aber noch nicht angekommen war, eine günstige Gelegenheit gefunden zu haben. Er versammelte daher den hohen Rat zum Gericht und stellte vor dasselbe den Bruder des Jesus, der Christus genannt wird, mit Namen Jakobus, sowie noch einige andere, die er der Gesetzesübertretung anklagte und zur Steinigung führen ließ. (Ant. XX, 200; Übersetzung: Heinrich Clementz, Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer, 666f.)

Demnach nutzte der Hohepriester Ananus der Jüngere die plötzliche Vakanz des römischen Prokuratorenpostens dazu, Jakobus (vorgeblich?) wegen Übertretung des Gesetzes durch Steinigung hinrichten zu lassen. Der konkrete historische Kontext erlaubt eine ziemlich genaue Datierung seines Martyriums auf das Jahr 62 n. Chr., nur wenige Jahre vor dem Ausbruch des Jüdischen Aufstands, der zum Untergang von Tempel und Stadt führen sollte. Es war anscheinend ein Vorgang, der für beträchtlichen Wirbel sorgte und neben Jakobus waren noch andere vom Vorgehen des Hohepriesters betroffen: weitere Angehörige der judenchristlichen Gemeinde Jerusalems? Ging es um eine Rivalität und Auseinandersetzung zwischen Ananus bzw. seiner Familie auf der einen und Jakobus auf der anderen Seite? Wurde der Konflikt durch Jakobus’ aktive Leitung einer erfolgreichen judenchristlichen Mission ausgelöst, wie es dann Hegesipp darstellt? Die Angelegenheit wurde zum Politikum, als gesetzestreue Juden beim neuen Prokurator gegen das Vorgehen des Hohepriesters Ananus protestierten, was zu dessen Absetzung durch König Agrippa I. führte (Ant. XX, 201). Die Wirkung des Jakobus in Jerusalem war offenbar nicht auf die christliche Gemeinde beschränkt und möglicherweise genoss er weit über sie hinaus Ansehen als ein „Gerechter“.

Die ausführlichste christliche Darstellung von Jakobus’ Martyrium bietet der schon eingangs zitierte Hegesipp (überliefert in Eusebius’ Kirchengeschichte II, 23,4-18). Die Schriftgelehrten und Pharisäer bitten Jakobus als in ihren Augen vorbildlichen Gerechten, das irregeleitete Volk beim Pessachfest vor einer Verführung durch Jesus zu warnen und es darüber aufzuklären, was es mit diesem Jesus auf sich hat („Was ist die Tür Jesu?“): „Stelle dich also auf die Zinne des Heiligtums, damit du dort oben sichtbar bist und deine Worte gut hörbar sind für das ganze Volk!“ (Kirchengeschichte II, 23,9-11):

23,12. Die vorher erwähnten Schriftgelehrten und Pharisäer ließen Jakobus also auf die Zinne des Tempels treten und riefen ihm zu und sagten: »Gerechter, dem wir alle vertrauen müssen! Da das Volk sich irreführen lässt und hinter Jesus, dem Gekreuzigten, herläuft, tue uns kund, was die Tür Jesu ist!« 23,13. Und er antwortete mit lauter Stimme: »Was fragt ihr mich nach dem Menschensohn? Und er sitzt im Himmel zur Rechten der großen Kraft und wird kommen auf den Wolken des Himmels.« 23,14. Und als viele mit Begeisterung erfüllt wurden und einen Lobpreis anstimmten auf dieses Zeugnis des Jakobus hin und sagten: »Hosanna dem Sohn Davids!«, da sagten wiederum dieselben Schriftgelehrten und Pharisäer zueinander: »Dumm haben wir gehandelt, da wir ein solches Zeugnis für Jesus verursacht haben. Aber lasst uns hinaufgehen und ihn hinabwerfen, damit sie sich fürchten und ihm nicht glauben.« 23,15. Und sie schrien und sagten: »Oh, oh, auch der Gerechte hat sich irreführen lassen!«, und erfüllten die bei Jesaja geschriebene Schriftstelle: »Lasst uns den Gerechten beseitigen, denn er ist uns lästig. Sie werden nunmehr die Früchte ihrer Werke essen.« 23,16. Sie stiegen also hinauf und warfen den Gerechten hinab. Und sie sagten zueinander: »Lasst uns Jakobus, den Gerechten, steinigen!« Und sie begannen, ihn zu steinigen, denn obwohl er hinabgeworfen worden war, war er nicht gestorben. Vielmehr wandte er sich um und beugte die Knie und sagte: »Ich bitte dich, Herr, Gott, Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« 23,17. Als sie ihn so mit Steinen bewarfen, rief einer der Priester der Söhne Rechabs, des Sohnes von Rechabim, die von dem Propheten Jeremia bezeugt werden, und sagte: »Haltet ein! Was tut ihr? Der Gerechte betet für euch!« 23,18. Und einer von ihnen, einer der Walker, nahm das Holz, mit dem er die Kleider auspresst, und schlug es gegen den Kopf des Gerechten. Und so starb er als Märtyrer. Und sie begruben ihn an der Stelle bei dem Tempel, und noch jetzt befindet sich seine Säule bei dem Tempel. Dieser ist ein wahrhaftiger Zeuge geworden für Juden und Griechen, dass Jesus der Christus ist. Und sogleich belagerte Vespasian sie. (Eusebius, Kirchengeschichte, II, 23,12-18; Übersetzung: Hegesipp übersetzt und eingeleitet von Frank Schleritt (Kleine Bibliothek der antiken jüdischen und christlichen Literatur, S. 24).

Diese christliche Märtyrerlegende verbindet mit der von Flavius Josephus berichteten Steinigung verschiedene biblische Motive: dass Jakobus wie Jesus vom Satan (Mt 4,5/Lk 4,9) von seinen Gegnern auf die „Zinne des Tempels“ geführt wird, den Ruf des Volkes „Hosanna dem Sohn Davids!“, der Jesus galt (Mt 21,9.15) und nun dem Herrenbruder, die Vergebungsbitte des Jakobus für seine Mörder wie sie Jesus am Kreuz (Lk 23,34) und Stephanus bei seiner Steinigung sprachen (Apg 7,60). Ein weiterer Bericht über das Martyrium des Jakobus, der in wichtigen Punkten mit dem Hegesipps übereinstimmt, anscheinend aber nicht davon abhängig ist – beide gehen vermutlich auf eine Quelle der judenchristlichen Jakobus-Tradition zurück -, findet sich in der gnostischen Zweiten Apokalypse des Jakobus aus Nag Hammadi (2. Jh. n. Chr.). Bemerkenswert in dieser Version ist die Berücksichtigung halachischer Bestimmungen zur Steinigung (Herabstürzen von einem erhöhten Ort, die Überprüfung, ob der Verurteilte noch lebt, und falls ja, das Legen eines schweren Steins auf dessen Körper), ohne allerdings ganz mit den in der Mischna überlieferten Bestimmung übereinzustimmen (vgl. Sanh. 6.4).

Und sie erhoben sich und sprachen: „Wohlan, laßt uns diesen Menschen töten, damit er aus unserer Mitte entfernt werde! Denn er wird uns in keiner Weise nützlich sein.“ Und sie waren da und fanden ihn bei der Zinne des Tempels stehen, bei dem starken Eckstein. Da beschlossen sie, ihn von der Höhe hinabzustürzen, und sie stürzten ihn hinab. [Als] sie [ihm] aber [nachblickten (?)], merkten sie, [daß er noch lebte (?). Da] machten sie sich auf (?) [und gingen hinunter,] griffen ihn und [schmähten] ihn, wobei sie ihn auf der Erde schleiften. Sie streckt ihn aus, wälzten einen Stein auf seinen Bauch, traten ihn alle mit Füßen und riefen: „O du Irregegangener!“ Sie richteten ihn, da er (immer noch) lebte, wieder auf, ließen ihn eine Grube graben und stellten ihn hinein. Nachdem sie ihn bis zum Bauch zugeschüttet hatten, steinigten sie ihn so. (Zweite Apokalypse des Jakobus, Codex V, p. 61f.; Übersetzung: Wolf-Peter Funk, in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 2, S. 1193)

Für die christliche Erinnerungslandschaft Jerusalems besonders wichtig ist in beiden Überlieferungen der Sturz des Jakobus von der „Zinne des Tempels“. Das hier verwendete griechische Wort pterygion bedeutet wörtlich etwa „Flügel(chen)“ und ist als baulicher Terminus kaum belegt, was zu einer Vielzahl unterschiedlicher Deutungen geführt hat. Eine Bestimmung, welcher Bauteil des Tempels damit ursprünglich gemeint war, ist deshalb kaum möglich. Im Neuen Testament kommt das Wort nur ein einziges Mal vor und zwar im selben Sinn wie beim Martyrium des Jakobus: in der Erzählung von Jesu Versuchung vor dem Beginn seines öffentlichen Wirkens (Mt 4,1-11; Lk 4,1-13):

5 Darauf nahm ihn der Teufel mit sich in die Heilige Stadt, stellte ihn oben auf den Tempel (wörtl.: „auf die Zinne/pterygion des Tempels“) 6 und sagte zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich hinab; denn es heißt in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er um deinetwillen, / und: Sie werden dich auf ihren Händen tragen, / damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt. 7 Jesus antwortete ihm: In der Schrift heißt es auch: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen.

Die Situation in der Versuchungserzählung Jesu und in den Berichten über das Martyrium des Jakobus sind vergleichbar: Jesus wird vom Satan auf die Tempelzinne gestellt und aufgefordert seine Gottessohnschaft durch einen Sturz in die Tiefe und die Bewahrung dabei zu beweisen, eine Versuchung, der Jesus widersteht. Jakobus wird von den Schriftgelehrten und Pharisäern auf die Zinne des Tempels geführt, damit er öffentlich gegen Jesus spricht. Er widersetzt sich aber wie Jesus diesem Ansinnen .

Offenbar ist bei der „Zinne des Tempels“ in der Versuchungserzählung Jesu an eine besonders hohe Stelle am Tempelgebäude gedacht. Andernfalls würde Jesu Versuchung durch den Satan sehr an Eindrücklichkeit verlieren. In Hegesipps Martyriumsbericht ist es ein Ort, den man gut erreichen, von dem man zu einer versammelten Menge sprechen kann und von dem ein Sturz tödlich sein kann, aber nicht sein muss. Vielleicht sind diese verschiedenen Aussagen aber auch einfach nur der literarischen Gestaltung der Erzählungen geschuldet und erlauben gar keine Rückschlüsse auf die architektonischen Gegebenheiten des Zweiten Tempels.

Auch in den Traditionen seines Martyriums begegnet also Jakobus’ enge Verbindung mit dem Tempel. Und so ist für die frühe christliche Überlieferung Jerusalems nicht nur sein gewaltsamer Tod, sondern auch sein Begräbnis unmittelbar mit diesem Ort verbunden: Hegesipp lokalisiert sein Grab „beim Tempel“ und berichtet (für das 2. Jh. n. Chr.), dass sich dort eine Säule als Grabdenkmal für Jakobus befand. Dabei kann er eigentlich nur die Tempelplattform vor Augen haben, auch wenn es dafür keine frühchristliche Ortstradition (mehr) gibt. Später spricht Hieronymus davon, dass Jakobus nahe beim Tempel begraben worden sei, von dem er herabgestürzt wurde und dass bis zum Ende der Herrschaft Hadrians sein Grabstein mit einer Inschrift gut bekannt war (Hieronymus, De viris illustribus, 2). Es ist natürlich schwer vorstellbar, dass die jüdischen Autoritäten des Tempels vor dessen Zerstörung die Bestattung des Jakobus auf diesem Areal erlaubt hätten. Darin zeigt sich aber eine völlig veränderte Wahrnehmung des Tempelbergs durch die frühen Christen in Jerusalem.  Verstärkt wird das noch durch die andere christliche Überlieferung, die sich für die Christen mit diesem Ort verband: die Ermordung des Zacharias (vgl. Blog: Was die simpliciores fratres, die „einfacheren Brüder“, noch sahen: das Blut des Zacharias auf dem Tempelberg). Letztlich beruht dieser negative Blick auf den Tempel bzw. den Tempelberg auf der Jesus im Neuen Testament zugeschriebenen Verheißung, dass dort kein Stein auf dem anderen bleiben wird (Mk 13,1f. par).

Die Überlieferungen vom Tod und Grab des Jakobus haben ihre Spuren im christlichen Jerusalem bis heute hinterlassen, wenn auch fast nur noch im archäologischen Befund und auch nicht mehr auf der Tempelterrasse. Seit dem 4. Jh. n. Chr. wird sein Grab im Kidrontal bei dem Säulengrab der Bene-Hesir aus dem 2. Jh. v. Chr. verehrt. Eine lateinische Auffindungslegende aus dem 10. Jh., die auf ein griechisches Original aus byzantinischer Zeit zurückgehen dürfte, erzählt die wunderbare Entdeckung der Gebeine von Jakobus, Zacharias und Simeon in einer Höhle im Kidrontal zur Zeit des Bischofs Kyrill von Jerusalem, genauer im Jahr 351 n. Chr., durch Visionen des Eremiten Epiphanius und eines hohen Beamten namens Paulus aus Eleutheropolis Nach einer kurzzeitigen Translatio der Gebeine in die Hagia-Sion-Basilika seien sie im folgenden Jahr in die am Auffindungsort durch jenen Paulus gestiftete Kapelle überführt und dort verehrt worden. Vor dem Pyramiden-Monolithen des Grabmonuments wurden bei Ausgrabungen 1924 durch N. Slouch die Reste der byzantinischen Grabkapelle freigelegt. Vielleicht ist sie ganz oben rechts auf der Madaba-Karte dargestellt. Dem Georgischen Lektionar zufolge (vor 800 n. Chr.) gedachte man dort am 25. Mai und am 1. Dezember der Beisetzung der Gebeine des Herrenbruders, des Simeon und des Zacharias.

Zu dieser Lokalisierung des Jakobus-Grabes passt es, dass Pilgerberichte ab dem 4. Jh. die Südostecke der Tempelterrasse als „Zinne des Tempels“ beschreiben,so etwa der Pilger von Bordeaux (333 n. Chr.), mit Bezug auf die Versuchung Jesu, nicht auf das Martyrium des Jakobus. Dass er die südöstliche Ecke der Tempelterrasse vor Augen hatte, ergibt sich aus seiner Erwähnung der dort gelegenen Räume des Palastes Salomos, womit nur die sog. Ställe Salomos gemeint sein können, eigentlich herodianische Substruktionsgewölbe in der Südostecke der Tempelplattform.

Dann gibt es dort den sehr hohen Eckturm, auf den der Herr hinaufstieg; da sprach der Versucher zu ihm, der Herr aber antwortete ihm: „Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen, sondern ihm allein dienen!“ … Unter der Zinne des Turmes sind viele Räume, wo Salomo seinen Palast hatte. (Pilger von Bordeaux, 15; Übersetzung: Herbert Donner, Pilgerfahrt ins Heilige Land, 54)

Der Pilgerbericht des Theodosius (zwischen 518 und 530 n. Chr.) verbindet mit der „Zinne des Tempels“ die Erinnerung an das Martyrium des Jakobus:

Der hl. Jakobus, den der Herr eigenhändig zum Bischof geweiht hat, ist nach der Himmelfahrt des Herrn von der Zinne des Tempels herabgestürzt und hat sich nicht verletzt; aber ein Walker hat ihn mit der Tragestange, an der er seine Sachen zu tragen pflegte, erschlagen. Er ist auf dem (am?) Ölberge beigesetzt. Dieser hl. Jakobus, der hl. Zacharias, und der hl. Symeon sind in ein und demselben Grabmal beigesetzt; dieses Grabmal hat der hl. Jakobus selber errichtet, ihre Leichname selber dort aufbewahrt und angeordnet, daß er dort mit ihnen zusammen beigesetzt werden wolle. (Theodosii de situ terrae sanctae, 9; Übersetzung: Herbert Donner, Pilgerfahrt ins Heilige Land, 199f.)

Die Identifizierung der „Zinne des Tempels“ mit der Südostecke der Tempelterrasse hatte neben dem Ort des Jakobus-Grabes unterhalb davon im Kidrontal aber vermutlich noch einen anderen Grund. Noch heute ist dort im ausgebesserten Mauerwerk zu erkennen, dass sich in byzantinischer Zeit die noch erhaltenen herodianischen Quader zu einer hoch aufragenden Spitze aufgetürmt haben. Darin die „Zinne des Tempels“ zu erkennen, muss nahegelegen haben.

In der Kreuzfahrerzeit blieben diese Traditionen lebendig und das traditionelle Grab des Jakobus im Kidrontal war nach wie vor bekannt. So berichtet der „Seventh Guide“ (um 1160), dass sich im Tal Joschafat (Kidrontal) eine Kirche befinde, in der Jakobus, Simeon der Ältere und Zacharias begraben seien. Allerdings veränderten die großartigen Bauwerke der Omayyaden auf der Tempelterrasse die religiöse Landschaft Jerusalems tiefgreifend. Unter der Herrschaft der Kreuzfahrer wurden sie komplett christianisiert und damit kehrte auch die Erinnerung an Jakobus wieder auf den Tempelberg zurück. Dem Pilger Theoderich (1169-1174) zufolge markiert der Kettendom östlich des Felsendoms als Jakobus-Kirche nicht nur den Ort seines Martyriums, sondern auch seines Grabes, das vom Kidrontal hierher übertragen worden sei.  Auch Johannes von Würzburg (um 1170) verbindet mit dem Kettendom den Ort von Jakobus’ Martyrium.

Heute lebt die Erinnerung an den Herrenbruder Jakobus, diese so bemerkenswerte Persönlichkeit der ältesten christlichen Geschichte, Bruder Jesu und „erster Bischof“ der Jerusalemer Gemeinde, nicht mehr an den ursprünglichen Orten seines Gedächtnisses. Sie wird vor allem noch – zusammen mit der seines Namensvetters, des Apostels Jakobus – in der armenischen Jakobus-Kathedrale wach gehalten. Die Überlieferung der armenischen Kirche lokalisiert dort das Haus des Herrenbruders, wohin seine Gebeine aus dem Grab im Kidrontal überführt worden seien. Diese Tradition prägt die Kirche seit dem 15. Jh., wozu auch die Verehrung des Bischofsthrons des Herrenbruders gehört.

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